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Ja, es gibt die Cancel-Culture. Und nein, es handelt sich nicht um harmlose EinzelfĂ€lle. Letzteres zu behaupten, hieße sogar: zu bagatellisieren

Univ.-Prof. Dr. Dieter Schönecker
13.04.2021, 05.30 Uhr

Bilden sich Liberale nur ein, dass die Wissenschaftsfreiheit angegriffen wird? Ein Blick auf die Fakten erlaubt eine klare Antwort. Stammt aus den Vereinigten Staaten, lÀsst sich inzwischen auch jenseits des Atlantiks finden: Cancel-Culture. (Im Bild: Campus der Harvard University, MÀrz 2020)
Brian Snyder / Reuters

Glaubt man Jan-Werner MĂŒller, ist die Cancel-Culture kein Problem. Es handle sich um EinzelfĂ€lle. Und die Art, wie Liberale darauf reagieren, zeige vor allem ihre DĂŒnnhĂ€utigkeit.

So schreibt er in dieser Zeitung, und es bedarf einer ordentlichen Portion hermeneutischen Wohlwollens, seinem Beitrag zu entnehmen, was der Autor eigentlich sagen will. Der Text besticht weder durch prÀzise Aussagen noch durch klare Argumente, und er enthÀlt nicht viel mehr als die bagatellisierende These, mit der Cancel-Culture sei doch alles halb so wild.

Was also will MĂŒller sagen? Erstens sei das Lamento ĂŒber Cancel-Culture und Political Correctness doch gar nicht neu, sondern man habe Ähnliches schon vor mehr als dreissig Jahren bei Allan Bloom lesen können. Zweitens hĂ€lt MĂŒller, wie er in einem anderen Aufsatz etwas klarer schrieb, die Cancel-Culture auch in den USA fĂŒr ein "marginales Problem", es gebe nur "EinzelfĂ€lle". Drittens wollten sich die liberalen Jammerlappen, die sich ĂŒber Cancel-Culture echauffieren, in Wahrheit gegen Kritik "immunisieren".

Freiheit weniger wichtig als dekolonialisiertes Curriculum

ZunĂ€chst: Aus der richtig beobachteten Tatsache, dass es Ă€hnliche BefĂŒrchtungen vor dreissig Jahren auch schon gegeben hat, folgt natĂŒrlich gar nichts fĂŒr die Frage, wie man die gegenwĂ€rtige Lage bewerten muss. Allenfalls könnte man sagen, dass die Cancel-Culture nicht neu ist. Das stimmt, aber daraus wiederum folgt nicht, dass es heute nicht schlimmer ist als zu Zeiten Blooms (und schlimmer wurde es dokumentierbar vor allem in den letzten Jahren). ErgĂ€nzen könnte man, dass Bloom Wurzeln fĂŒr Übel diagnostiziert hat, die jetzt erst so richtig spriessen; es ist nachweislich die jĂŒngere Generation, der akademische Freiheit weniger wichtig ist als etwa das Bestreben, das Curriculum zu dekolonisieren.

Wie andere in Deutschland vermag auch MĂŒller nur "stereotyp wiederholte Beispiele" fĂŒr Cancel-Culture zu erkennen. Was ihm Oberlin College sind und Middlebury, sind den hiesigen Verharmlosern Frankfurt und Siegen. Die Evidenz fĂŒr das, was Hans Ulrich Gumbrecht in dieser Zeitung als "Regime des Meinungsterrors" an amerikanischen UniversitĂ€ten beschrieben hat, ist aber so ĂŒberwĂ€ltigend, dass man es kaum noch anders als den Willen zur Macht durch gezielte Leugnung deuten kann, sie immer wieder wegzureden.

Die politischen VerhÀltnisse an amerikanischen UniversitÀten

Erst kĂŒrzlich wurde in den USA die Academic Freedom Alliance gegrĂŒndet. Ihr gehören auch mehr als zwei Dutzend Professoren der Princeton University an, MĂŒllers Arbeitgeber, u. a. auch der Politikwissenschafter Keith E. Whittington, der eine Verteidigungsschrift zur Redefreiheit geschrieben hat ("Speak Freely: Why Universities Must Defend Free Speech"). Sind das alles nur Panikmacher, blind fĂŒr strukturelle Ungerechtigkeiten und Machtfragen? Hatten der konservative Princeton-Jurist Robert P. George und der linke Harvard-Philosoph Cornel West nichts Besseres zu tun, als 2017 gemeinsam einen Aufruf zur Verteidigung der akademischen Freiheit zu organisieren?

Der Vorwurf der akademischen Cancel-Culture kann kaum nur an den Haaren herangezogen sein, wenn prominente amerikanische Intellektuelle 2015 die Heterodox Academy mit mittlerweile 4000 Mitgliedern grĂŒnden, um der politischen Einseitigkeit an amerikanischen UniversitĂ€ten entgegenzuwirken. Und es passt auch schlecht zu der These MĂŒllers, die Lehrenden an den Colleges und UniversitĂ€ten wollten "immer möglichst alle Gesichtspunkte darlegen". Immerhin bestreitet MĂŒller nicht, dass in den USA die Professorenschaft "ĂŒberwiegend die Demokraten wĂ€hlt".

Dass dies nur ĂŒberwiegend so sei, ist allerdings eine weitere Verharmlosung: Nicht nur betrĂ€gt das VerhĂ€ltnis registrierter Demokraten zu registrierten Republikanern 8,5:1, an den geisteswissenschaftlichen Departments ist das VerhĂ€ltnis noch viel unausgewogener: Anthropologie 42,2:1, Englisch 26,8:1, Soziologie 27:1. Und zĂ€hlen die von der Foundation for Individual Rights in Education (FIRE) in sehr grosser Zahl dokumentierten FĂ€lle akademischer FreiheitseinschrĂ€nkungen nichts (siehe auch hier)? Alles nur "Anekdoten", wie Patrick Bahners in der "FAZ" schrieb, oder eben "EinzelfĂ€lle", wie MĂŒller sie nennt?

Selbstzensur und Ausladungen von Wissenschaftern

Auch an deutschsprachigen UniversitÀten hÀufen sich die FÀlle, wie das Netzwerk Wissenschaftsfreiheit nun dokumentiert hat. .

Erst kĂŒrzlich lud das Philosophische Seminar der UniversitĂ€t Siegen eine Wuppertaler Kollegin zu einem Vortrag ein, was diese mit der BegrĂŒndung ablehnte, meine AktivitĂ€ten fĂŒr das Netzwerk Wissenschaftsfreiheit und die Meinungsfreiheit wĂŒrden sie "abschrecken". Ein Mitglied zog sich aus dem Netzwerk zurĂŒck, weil er von seinem unmittelbaren Umfeld attackiert wurde (wie er mir schrieb, kamen "die heftigsten informellen Angriffe von jenen, die am lautesten bestreiten, dass es das PhĂ€nomen ĂŒberhaupt gibt"

Eine frisch beigetretene Kollegin aus den Gender-Studies berichtete vor ein paar Tagen, dass eine schon lĂ€nger ausgesprochene Einladung zu einem Vortrag im Rahmen einer Ringvorlesung nun von der Vorbereitungsgruppe mit einem kritischen Fragezeichen versehen worden sei, weil sie dem Netzwerk beigetreten sei. Junge Nachwuchsleute wollen nicht in die NĂ€he von Mitgliedern des Netzwerks gebracht werden, selbst wenn es ihre DoktorvĂ€ter sind. Hand aufs Herz: Niemand hĂ€tte auch nur den Hauch einer Chance, als Stipendiat der AfD-nahen Desiderius-Erasmus-Stiftung auf dem akademischen Markt zu reĂŒssieren, als Stipendiat der Rosa-Luxemburg-Stiftung dagegen - kein Problem. Auch politische Diskriminierung ist eine Form von Cancel-Culture.

Kritik und Cancel-Culture sind nicht dasselbe

Anders als von MĂŒller und vielen anderen insinuiert, ist die Klage ĂŒber Cancel-Culture keineswegs nur Camouflage, um unliebsame Kritik an ungerechten MachtverhĂ€ltnissen loszuwerden. Der Vorwurf, die Kritiker der akademischen Cancel-Culture wollten sich selbst gegen berechtigte Kritik an den diversen Formen der Ungerechtigkeit (Rassismus, Sexismus usw.) schĂŒtzen, ist grotesk.

Selbstredend stehen Kritik und Cancel-Culture nicht auf einer Stufe. Dabei gibt es schwierige Fragen zu klĂ€ren: Wie lassen sich rechtswidrige Angriffe auf die Wissenschaftsfreiheit von solchen, die zwar rechtskonform sind, aber dennoch illegitim, unterscheiden? Kann es umgekehrt rechtswidrige, aber legitime Boykottmassnahmen gegen Wissenschafter geben? Welche verschiedenen Typen von Cancel-Culture gibt es? Warum gibt es Cancel-Culture von links wie von rechts? Was ist ĂŒberhaupt "die Wissenschaft", auf deren Freiheit sich die Kritiker der Cancel-Culture beziehen?

Es lohnt sich, darĂŒber nachzudenken, so wie es sich lohnt, etwa ĂŒber strukturellen Rassismus nachzudenken. Die Strategie polemischer Verharmlosung fĂŒhrt uns dagegen nicht weiter.

Dieter Schönecker ist Professor fĂŒr praktische Philosophie an der UniversitĂ€t Siegen. Zuletzt erschien von ihm "Rassismus, Rasse und Wissenschaftsfreiheit. Eine Fallstudie", in: Philosophisches Jahrbuch 2/20, S. 248-273. Er ist Mitglied im Netzwerk Wissenschaftsfreiheit.


Quelle: NZZ


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